
editorial

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER
Gerne zeigen wir andern unsere Schokoladenseite. Nicht immer klappt es. Manchmal «gehen die Pferde mit uns durch» und offenbaren die weniger ehrenhaften Eigenschaften.
Mit meiner Familie geniesse ich den Urlaub an einem wunderschönen Ort am Meer, den ganzen Tag über lacht die Sonne. Das Essen und die Unterkunft sind ausgezeichnet, das Personal zuvorkommend – keine Wünsche bleiben offen. Paradiesische Zustände herrschen an diesem erlesenen Plätzchen – könnte man meinen.
Schon in der Morgendämmerung schleichen «Zweibeiner» mit Badetüchern bewaffnet an den Pool, um eine Liege zu reservieren – nur ja nicht riskieren, dass sich ein anderer an bevorzugter Lage sonnt!
«Darum, wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle.»
1. Korinther 10,12
Nach dem Frühstück lasse ich mich ins kühle Nass gleiten und freue mich, meine Bahnen zu ziehen. Doch jeder scheint nach eigenen «Verkehrsregeln» unterwegs zu sein. Werden diese missachtet, wird dem Unmut darüber deutlich Ausdruck verschafft. So sehr ich mich auch bemühe, niemandem ein Ärgernis zu sein – ich bin chancenlos und gebe resigniert auf.
Nach einem herrlichen Tagesausflug bringt uns ein netter Buschauffeur zum Hotel zurück. Unterwegs hält er einige Male an, um Fahrgäste aussteigen zu lassen. Eine Familie mit Kind und Kegel schafft den Ausstieg nicht in der üblichen «Durchschnittsgeschwindigkeit». Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie eine ältere Dame eine Reihe hinter mir genervt mit den Augen rollt und bitterböse Blicke in Richtung Bustür feuert. Nach zwei weiteren Stopps in unserer Ferienanlage sticht sie plötzlich an mir vorbei, hält dem nichts ahnenden Fahrer ihr rotes Armband, das anzeigt, in welchem Ressort sie wohnt, unter die Nase und brüllt auf Deutsch: «Ich möchte einfach hier abgesetzt werden, und zwar sofort!» Der gute Mann kann zwar nur Spanisch, doch diese Sprache versteht er auch so. Dennoch bleibt er ruhig, freundlich und tut sein Bestes, ich aber koche innerlich vor Wut. Den ganzen Tag schon hat diese Dame miese Laune verbreitet, hat jeden freudigen Kommentar von Reiseteilnehmern runtergemacht und über alles und jedes gemotzt. Mir schiessen Sätze durch den Kopf in der Gattung: «Sie müssen ja ganz schön viele Probleme mit sich selbst haben, dass Sie sich so undankbar aufführen und man Ihnen nichts recht machen kann ...!», oder: «Warum bleiben Sie nicht einfach zu Hause?» Ich rege mich extrem auf und überhebe mich in schwindelerregende Höhen. Wie kann man nur so sein?
Das Echo im Kopf wirft den Satz zurück und trifft mich mit voller Wucht. Ja, wie kann man nur so sein?! Wie kann ich nur so sein?
Wie oft reagiere ich mit Ungeduld auf die Liebe meines Mannes oder meiner Kinder? Wie schnell nerve ich mich, wenn etwas meine Pläne durchkreuzt? Wie oft bin ich egoistisch, wo Dankbarkeit angesagt wäre? Wie oft? Wie oft!
Beschämt formuliere ich lautlos: «Danke, Herr Jesus, für deine Vergebung jeden Tag und deine Geduld mit mir.» Wie schnell werden wir zu Pharisäern, sehen den Splitter beim Nächsten, aber den eigenen Balken nicht. Diese unzufriedene Frau kennt den Heiland nicht. Ich nehme mir vor, die Augen offen zu halten, und bete, dass, falls sie mir wieder über den Weg läuft, ich ihr in Liebe begegnen und sie in ihrer Not abholen kann. Dann möchte ich ihr von dem erzählen, der meine Zufriedenheit ist, der vergibt und verändert.
Schöne Ferien! Herzlich
