

EDITORIAL
Liebe Leserin, lieber Leser
Der Pharisäer Nikodemus und die samaritanische Frau am Brunnen. Die Berichte stehen in der Bibel gleich hintereinander (Joh. 3 und 4). Hier der bekannte, intellektuelle Meinungsmacher, dort die namenlose und ungebildete samaritanische Frau. Hier der moralisch Integere, dort die Verrufene. Nikodemus geht suchend zu Jesus, die Frau wird von Jesus aufgesucht. Wie unterschiedlich sind doch diese beiden Menschen! Doch in einem Punkt sind sich beide gleich: Sie brauchen Erlösung, neues Leben aus Gott – und beide werden vom Evangelium erreicht. Nikodemus ist ein Beispiel für die Tatsache, dass niemand moralisch so hoch aufsteigen kann, bis er die Errettung durch Jesus nicht mehr braucht; die Samaritanerin ist ein Beispiel dafür, dass niemand so tief sinken kann, dass ihn die Erlösung nicht mehr erreichen könnte.
«Viele Samaritaner aus jenem Ort glaubten jetzt an Jesus. Die Frau hatte ihnen bezeugt: ‹Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe›, und auf ihr Wort hin glaubten sie.»
Johannes 4,39 NGÜ
Weil die Samaritaner jüdische Glaubenspraxis mit Heidnischem vermischten, wurden sie von den Juden verworfen. Sie vermieden den Gang durch Samaria. Aus der Hand eines Samaritaners nahmen sie nichts an, von einer Frau zuletzt. Um der Frau am Jakobsbrunnen zu begegnen, durchbrach Jesus die Schranken der Nationalität, der Religiosität, der gesellschaftlichen Norm, der Kultur. All dies liess er hinter sich, um einem verlorenen Menschen zu begegnen. Er nahm einen Umweg in Kauf, setzte sich am Brunnen, redete mit der Samaritanerin, liess sich von ihr Wasser reichen. So wichtig war ihm das Leben dieser Frau, die von sich aus niemals in den Tempel gekommen wäre. – Wie erreicht das Evangelium Menschen, die nicht in unsere Kirchen kommen?
Liebe ich andere Menschen so, dass ich ihnen das Evangelium mitteilen möchte, auch wenn ich dafür menschliche Barrieren durchbrechen muss und meinen Ruf riskiere? Um die Frau am Jakobsbrunnen aufzusuchen, überschritt Jesus gleich mehrere Grenzen. Er kam in die Welt der Samaritanerin und brachte ihr «lebendiges Wasser». William Barclay kommentierte: «Hier liebt Gott die Welt nicht theoretisch, sondern praktisch.»
Wir alle kennen Menschen, die sich entweder zu gut fühlen oder zu schlecht, um die Botschaft der göttlichen Errettung durch Jesus Christus anzunehmen. Jesus lehrt uns, seinem Beispiel zu folgen. Die Frau am Brunnen lag ihm so am Herzen, dass er einen grossen Umweg auf sich nahm, um sie zu treffen. Haben wir ein echtes Anliegen, Menschen mit dem Evangelium zu begegnen – empfinden wir es als heiligen, inneren Auftrag, ihnen Gottes Liebe zu bezeugen? Dann sollten wir es auch tun.
Herzliche Grüsse, Ihr Rolf Höneisen